Universitas Phantastica – Reflektion #8 – Märchen – Grundlegendes …

Selbstreflektion - Intern

Wo reiht sich das Märchen bei der Betrachtung des Phantastischen ein? Ist es selbst Phantastisch in literarischem Sinne? Wie steht es zur Fantasy?
Fragen über Fragen die der Beantwortung harren …

Bevor ich nun in der Antikenrezeption fortfahren kann, muss ich noch kurz die Grundzüge von drei wesentlichen Grundpfeilern der Phantastik aufgreifen.

Märchen – Sage – Legende

Beginnen wir mit dem Märchen –

Wie meine Leitquelle „Hans Richard Brittnacher/Markus May (Hrsg.) – Phantastik – ein interdisziplinäres Handbuch“ bekundet, „… leitet sich die Bezeichnung als Diminutivform aus dem mhd. Substantiv maere (Nachricht, Kunde) ab, das seinerseits auf das ahd. māri (berühmt) zurückgeht. Die Verkleinerungsform deutet zum einen auf die Kürze der maere hin, zum anderen aber auch auf deren Zweifelhaftigkeit. …“

Als Name für Textsorten findet sich der Ausdruck bereits im 16. Jahrhundert, als Gattungsname, zunächst durch Johann Karl August Musäus und dann durch die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, Ende des 18. Jahrhunderts – Anfang des 19. Jahrhunderts, anerkannt.

Als fiktionale Prosaerzählungen wurden Märchen zunächst mündlich, später schriftlich, überliefert. In Hinblick auf die in Rede stehende Antikenrezeption der Phantastik sollte darauf aber hingewiesen werden, dass keine Texte von der Antike bis ins Mittelalter bekannt sind, die mit diesem Gattungsbegriff belegt werden könnten.

Text- und Bildzeugnisse antiker mythologischer Vorstellungen und Volks- und Aberglaube bilden hier eine Referenz die sich in Mythen, Sagen und Fabeln und eben auch in Märchen niedergeschlagen hat. Verbindlich wurden diese jedoch erst im 18. Jahrhundert für die phantastische Tradition.

Wikipedia am 9-1-2018: „Im Unterschied zur Sage und Legende sind Märchen frei erfunden und ihre Handlung ist weder zeitlich noch örtlich festgelegt. Allerdings ist die Abgrenzung vor allem zwischen mythologischer Sage und Märchen unscharf, beide Gattungen sind eng verwandt. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist das Märchen Dornröschen, das etwa von Friedrich Panzer als märchenhaft ‚entschärfte‘ Fassung der Brünnhilden-Sage aus dem Umkreis der Nibelungensage betrachtet wird. Dabei kann man die Waberlohe als zur Rosenhecke verniedlicht und die Nornen als zu Feen verharmlost ansehen.

Ich glaube wichtig derzeit für uns ist, dass dem Grimmschen Märchenkonzept zufolge das Märchen von wundersamen Ereignissen berichtet. Spezifisch ist es auch, dass dabei das Erzählte nicht einfach geglaubt werden soll und vorausgesetzt wird, dass der Rezipient ein Unterscheidungsvermögen zwischen Natürlichem und Übernatürlichem, Wahrscheinlichem und Unwahrscheinlichen, Glaubwürdigem und Unglaubwürdigem besitzt.

Rein A. Zondergeld (Hrsg.) - Phaicon 1
Rein A. Zondergeld (Hrsg.) – Phaicon 1

Roger Caillois schreibt in seinem Essay „Das Bild des Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science Fiction“ in: Rein A. Zondergeld, Phaicon I, Almanach der phantastischen Literatur, Suhrkamp, Frankfurt/Main (1974), ISBN 3458017690:

… Das Märchen ist ein Reich des Wunderbaren, das eine Zugabe zu unserer Alltagswelt ist, ohne sie zu berühren oder ihren Zusammenhang zu zerstören. Das Phantastische dagegen offenbart ein Ärgernis, einen Riss, einen befremdenden, fast unerträglichen Einbruch in die wirkliche Welt. Oder anders gesagt: die Welt des Märchens und die wirkliche Welt durchdringen sich reibungs- und konfliktlos …“

Phantastische Welten
LeBlanc/Solms

Wenn wir also den Vergleich zwischen dem Märchen und der Fantasy wagen, so stellt Wilhelm Solms in „Phantastische Welten“ unter „Einfach Phantastisch. Von der Wundererzählung zur Phantastischen Literatur“ (Seite 9-22) fest:

„… In der Fantasy-Literatur wir die Wirklichkeit in die Phantastik überführt, im Märchen wird die Phantastik in die Wirklichkeit eingeführt.“

Das Volksmärchen ist an sich keine phantastische Literatur, sondern eine Wundererzählung. Beim Kunstmärchen ist man sich nicht so sicher ob es zur Wundererzählung oder zur Phantastischen Erzählung zu rechnen ist. Fantasy ist natürlich phantastische Literatur – die jüngste und extremste Form …

Märchenhaftes hat aber die Phantastik beeinflusst, schon von Alters her, da die Wundererzählung, mit ihren Wurzeln zurück bis in die Antike, sich im romantischen Kunstmärchen und Schauerroman, als der klassischen Phantastik und in der Fantasy und dem Horror, als der modernen Phantastik, durchscheint.


Vorgänger und Hilfreiches:


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11 thoughts on “Universitas Phantastica – Reflektion #8 – Märchen – Grundlegendes …”

  1. Hier noch eine interessante Aussage zu „Rumpelstilzchen“ – https://www.kuenstlerhaus-muc.de/programm/2018/01/13/Wer-hat-Angst-vorm-boesen-Wolf
    sollte das stimmen, so würde das die Aussage:
    „…In Hinblick auf die in Rede stehende Antikenrezeption der Phantastik sollte darauf aber hingewiesen werden, dass keine Texte von der Antike bis ins Mittelalter bekannt sind, die mit diesem Gattungsbegriff belegt werden könnten…“
    stark belasten.
    Die Frage ist also:“ Was führt zu dieser Aussage?“

  2. „… stellt sich die Frage, wer oder was sich noch alles ins Märchen zurückgezogen haben könnte.…“
    In der Tat eine sehr interessante Frage, die mir auf diese Art noch nicht präsent war/ist. Ist, glaube ich, eine Vertiefung wert …

  3. Das ist sehr spannend! Da muss ich mir auch noch einmal gründliche Gedanken drüber machen, da ja gelegentlich darauf hingewisen wird, dass z.B. Star Wars eigentlich keine SF, sondern vielmehr ein Märchen sei (Vor langer Zeit weit entfernt; Prinzessin, dunkler Bösewicht etc.).

    Was mich in letzter Zeit sehr am Märchen fasziniert ist die Frage, inwiefern sehr alte Dinge in diesem fortleben. So gibt es ja mehrere Wissenschaftler, die davon ausgehen, dass Frau Holle ursprünglich eine germanische Göttin war, die die Christianisierung überlebte, indem sie sich ins Märchen zurückzog. Falls das stimmen sollte, stellt sich die Frage, wer oder was sich noch alles ins Märchen zurückgezogen haben könnte.

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